In den frühen Morgenstunden des 13. Mai fahren wir mit den Vorschulkindern im T4 in die Königshainer Berge. Auf dem Weg kaufen wir noch Leckereien für die Brotzeit, denn das Mittagessen haben wir abbestellt, um genügend Zeit am Fels zu haben.
Die Kinder haben offene Augen. Sie sind gespannt. Der Himmel ist blau und die Wiesen grün wie auf ihren Buntstiftbildern. Maikäfer und Rosenkäfer schwirren um uns herum.
Nach dem Frühstück im Schatten einer Eiche, laufen wir an den Steinbrüchen entlang. Ein Kletterer hängt „mit nacktem Oberteil“ (Alma) in der Wand.
Die Klettersektoren Kolosseum und Hades teilt ein zerklüfteter Wall aus Granitblöcken, der sich steil zu deren höchster Stelle streckt. Ihn gilt es nun zu überwinden.
Ähnlich der Hillery-Stufe am Mount Everest wartet die schwierigste Kletterpassage kurz vor dem Gipfel auf uns. Die versierten Kinder meistern sie auch ohne Flaschensauerstoff.
Der weite Ausblick vom ehemaligen Firstenstein in den flachen Nordosten macht alles stiller in uns. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt!“
Im ganzen Gebiet ist es entscheidend, dass die Kinder unseren Anweisungen folgen. Ein paar Schritt zu weit können die letzten sein.
Schließlich erreichen wir alle gesund die Westwand des Sektors Paradies, wo Xavers Unsinn auf uns wartet, eine liegende 15 Meter hohe Wand, die schon einigen Touristen beim Versuch, den vermeintlich leichten Aufstieg als Abkürzung zu nutzen, die Haut zerschmirgelte.
Kletterer unterscheiden überhängende, senkrechte und liegende Wände. Letztere können trügerisch sein. Man muss sich zwar nicht permanent festhalten wie im Überhang, in welchem es unbedingt Griffe und Tritte geben muss. Diese aber sind bei liegenden Wänden nicht immer erforderlich, was nicht nur Touristen in den Linien unserer Wand vor Herausforderungen stellt.
Die Kinder aber stellen sich sehr gut an. Eines nach dem anderen erklimmt die Wand und erreicht beim Umlenker etwa die Höhe des 3. Stockes eines Görlitzer Gründerzeithauses.
Die Kinder, die gerade nicht klettern, verschönern ein paar der Abraumblöcke.
Keinem ist die Höhe gleich. Das können wir in den Gesichtern sehen. Aber alle gehen an ihre Grenze.
Das Besondere am Klettern (zumindest, wenn das Seil „von oben kommt“, man also nicht stürzten kann, auch nicht ins Seil) ist die Möglichkeit, in einem höchst sicheren Raum das Gefühl großer Unsicherheit zu erleben. Ähnliches kann man erfahren, wenn man ans Geländer eines großen Abgrundes tritt. Man wird unmöglich hinunterfallen und muss sich dennoch überwinden. Dabei bestimmen die Kinder über die Höhe des Abgrundes und über das Tempo. Manchmal müssen sie vor dem nächsten Schritt bewusst ihr Vertrauen ins Material und auch in uns setzen, was dann immer auch ein Aussetzen ist.
Im Mittagskreis vor der Brotzeit besprechen wir mit den Kindern, wie es ihnen an der Wand ergangen ist, wie sie sich gefühlt haben.
Bevor wir zu unserem letzten Abenteuer für heute aufbrechen, lernen die Kinder noch, wie man sich nach allen Regeln der Kunst in ein sächsisches Gipfelbuch einträgt.
Wir verlassen das Paradies und gehen auf unserem Rückweg am Kaffeekrug vorbei, wo eine letzte Kletterei auf uns wartet. Auf Sicherheitsmaterial können wir hier verzichten. Trotzdem ist der Weg durch die Höhle recht anspruchsvoll.
Auf dem Gipfel gibt es noch ein paar Geschichten zu den Menschen, die diesen Ort hier vor tausenden von Jahren als Kultstätte nutzten, ehe wir uns auf den gemütlichen Rückweg vorbei an Däumling und Totenstein zum Auto machen.
Auf der Rückfahrt sind die Kinder platt. Das sanfte Schaukeln im aufgeheizten Bus. Der Wind durchs offene Fenster. Der Kratzer am Knöchel. Und vor dem inneren Auge der blaue Himmel über der Wand aus Granit.
Andreas

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